Systemsprenger:innen eine Definition
Das Phänomen sogenannter Systemsprenger:innen ist wenig konkret fassbar und beinhaltet eine Vielzahl von Verhaltensweisen, die Umwelt und Pädagog:innen nicht nur irritieren sondern Systeme an ihre Grenzen bringen. Es scheint keine klare einheitliche Formulierung oder Definition zu geben, wie man die Zielgruppe beschreibt, die es diversen Hilfesystemen so schwer macht.
Durch den „Hype“ des Filmes Systemsprenger 2019 wurde die mmn stigmatisierende Zuschreibung „Systemsprenger“ zum Narrativ in der Sozialpädagogik. Umgangssprachlich wird dieses Klientel mit Begriffen wie „Hard to reach kids“ – dissozial, oppositionell, „schwer erziehbar“, Grenzgänger, Problemkinder, „Broken Home Kids“, verhaltensgestört und „kids at high risk“ bezeichnet. Es sind Minderjährige mit einer „Störung des Sozialverhaltens“, delinquent, dissozial, oppositionell, gewaltbereit, grenzverletzend und stark „Verhaltensauffällig“.
Verhaltensauffälligkeit kann als Sammelbegriff bezeichnet werden für verschiedene Phänomene bei Kindern und Jugendlichen die durch ein abweichendes Verhalten bezogen auf altersgerechte soziale Erwartungen, Regeln und Normen auffallen. Vorrangig zeigen sich Abweichungen in psycho-sozialen Bereichen. Zb. Sozialen Kompetenzen, Emotionen, Motivation und Regelbewusstsein.
„Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs- , Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.“
(Myschker, N. (2009)
Bezugnehmend auf eine Studie von Macsenaere & Feist-Ortmann (Systemsprenger in der Jugendhilfe aus empirischer Sicht, in Kieslinger et al 2021) konnten folgende Parameter auch in Österreich in einer Studie des Vereins Arbeitskreis Noah (Verlaufsstudie 2022, AKs Noah) in der Erhebung festgestellt werden, um das Phänomen „Systemsprenger“ zu beschreiben:
- Auffällige Psychosoziale Symptome und deren Diagnosen (ADHS, aggressives Verhalten, Delinquenz, dissoziales Verhalten, Bindungsstörung, Auffälligkeiten im Sexualverhalten,
- Drogenmissbrauch, Ängste/Panikattacken und depressive Verstimmungen)
- gehäufte Delinquenz,
- Gewalt in der Familie und psychische Erkrankung eines Elternteiles,
- als auch ein höherer Altersdurchschnitt bei Beginn einer individuellen (Intensiv-) Maßnahme.
Auf Grund der individuellen Fallgeschichten sogenannter Systemsprenger:innen, gibt es keine klare Formulierung oder Definition wie man die Zielgruppe beschreibt, die es diversen Hilfesystemen so schwer macht.
Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet.
(Baumann, M. 2014)
Zentral ist, dass einerseits viele der obigen Verhaltensweisen bei einem Kind/Jugendlichen zutreffen und zusätzlich Hilfeangebote nicht zu einer gelingenden Betreuung führen. Auch die Unterstützung und Vernetzung mit anderen Hilfesystemen gelingt nicht. Somit werden unweigerlich Systeme bzw. deren Rahmenbedingungen gesprengt. Es handelt sich demnach weder um eine Diagnose oder Persönlichkeitsstörung, noch um klassisch abgrenzbare, pathologische, eindeutige Symptome, sondern eher um Symptomträger:innen aktuell zu eng strukturierter bzw. nicht passgenauer Hilfesysteme.
Aus eigenen internen Studien in der Organisation in der ich seit 2008 arbeite (AKs Noah Wien) und zB. der InHaus Studie (vgl. Klein & Macsenaere, 2015) wissen wir, dass die Jugendlichen als Symptomträger ganzer Systeme mit multiplen Deprivationen gesehen werden können. Die familiären Strukturen weisen auf problematische Beziehungen zu den Vertrauenspersonen hin und zeigen meist mehrfach Traumatisierungen über Generationen im Familiensystem auf.
Sieht man sich die Lebensgeschichten an, sehen wir Jugendliche deren Kindheit geprägt war durch missbräuchliche, dysfunktionale Beziehungen, emotionaler Unterversorgung uvm. Sie stammen vielfach aus sogenannten Multiproblemfamilien. Ihr Weg in der Kinder-Jugendhilfe beginnt nach der Abnahme durch das Jugendamt – raus aus der Familie – hin in eine Einrichtung „WG“. Dort wird die angebotene Beziehung der Betreuer*innen und der Helfersysteme auf die Probe gestellt und die mitunter irritierenden, bedrohlichen Verhaltensweisen münden in einer Jugendhilfekarriere, von Einrichtung zu Einrichtung. Sie sprengen Systeme im Sinne von hilflosen überforderten Hilfesystemen, die jedes für sich, keinen geeigneten Rahmen für diese „entgrenzten Kids“ bieten kann.
Wer hält also die aus die keiner aushält?
-Baumann, M. (2014): Jugendliche Systemsprenger – zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ2), Ernst Reinhardt Verlag
-Daniel Kieslinger, Marc Dressel, Ralph Haar (Hrsg.)(2021) : Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. Lambertus Verlag
-Klein, J. & Macsenaere, M. (2015). InHAus 2.0 – Individualpädagogische Hilfen im Ausland und ihre Nachhaltigkeit. Freiburg: Lambertus-Verlag.
-Myschker, N. (2009): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Ursachen, hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer, S49