Ihr müsst da was tun !

Vera wurde im Familiensystem als Kind misshandelt, so wie ihre Mutter. Vera wurde geschlagen, so wie ihre Mutter. Der Papa ist gerade wegen Raub und schwerer Körperverletzung in Haft.

Vera hat sich das nicht ausgesucht! Sie kommt mit 6 Jahren weg von zu Hause. Zuerst ins Krisenzentrum, dann in eine WG vom Jugendamt.

Misshandelt und gedemütigt ohne elterlichen Schutz und wenig Liebe erlebt sie eine traumatisierende Kindheit, die sie nach außen immer härter macht um zu überleben. Das mit der Schule klappt nicht so gut und sie sucht sich Freunde in den Parks.

Jetzt ist Vera 13 Jahre alt und  in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche, die anderswo nicht untergebracht werden können, da sie in WG-Gruppen Verhaltensweisen zeigt, die für andere gefährdend sind. Das ist ihre 3. WG.

In der neuen Einrichtung gibt es keine große Gruppe und geschulte Betreuer*innen, die für sie da sind. Doch ein sicheres Kinderzimmer und eine gesicherte Grundversorgung reichen nicht aus, um plötzlich jemand anderen aus ihr zu machen.

Sie ist gewaltbereit und bedrohlich,  sie gefährdet sich und andere.

Sie ist sich selbst teilweise egal geworden.

 

 

Systemische Begrenzungen

 

-> Auf der Psychiatrie wird sie nicht aufgenommen. Wenn, dann nur, um kurz sediert zu werden und wieder in die WG geschickt zu werden.

-> In der WG bedroht sie auch Betreuer*innen bis zu körperlichen Übergriffen.

-> Anzeigen ändern nichts, da sie noch nicht strafmündig ist.

-> Rechtlich gesehen darf man sie nicht in der WG einsperren, also kommt und geht sie, wie sie will.

-> Auf der Straße provoziert sie Gleichaltrige und Erwachsene bis zu körperlichen Übergriffen mit Verletzungen.

-> Schule, Auszeiten und andere Angebote nimmt sie nicht an, sie ist zu allem im Widerstand.

Vera ist regelmäßig abgängig, dies bedeutet Abgängigkeitsanzeigen, um irgendwann in der Nacht, wenn sie draußen „Randale“ macht, wieder von der Polizei in die WG gebracht zu werden. Vera nennt dies ihr Taxi.

Bei einem Übergriff auf eine Mitarbeiter*in wird die Polizei verständigt und kann daran nichts ändern. Denn dann ist Vera wieder ganz ruhig und rechtlich gesehen „nicht fremdgefährdend“.  Die Betreuer*in ist weiterhin im Dienst, Vera weiterhin in der WG.

Eine andere Betreuer*in macht eine Anzeige nach einem körperlichen Übergriff, diese wird polizeilich zurück gelegt. Vera merkt, es gibt keine Konsequenzen.

Im Wohnhaus sind die Nachbarn wütend, weil die Betreuer nichts tun und permanent Polizeieinsätze im Haus sind. Im Supermarkt sind die Mitarbeiter*innen wütend, weil die Betreuer nichts tun und Vera zwar dort bereits Hausverbot hat, dafür aber vor dem Supermarkt Leute provoziert. Die Umwelt glaubt, man müsse Vera Einhalt gebieten, ihr ordentlich die Grenzen aufzeigen und erwartet dies von den Betreuern  – die ja dafür angestellt sind.  Die Polizei ist wütend,  weil die Betreuer ihren Job nicht machen, denn sonst wäre Vera so nicht. Alle sind aufgebracht und erwarten, dass man etwas tut.

Doch was können wir tun?

Betreuer*innen sind keine Polizisten und können und dürfen Vera nicht festhalten.

Anhaltungen darf nur die Polizei machen. Anzeigen nützen nichts, da Vera mit 13 Jahren strafunmündig ist. Sogar wenn man in der WG Securities anstellt, dürften diese die Jugendliche nicht festhalten, lediglich versuchen zu deeskalieren.

Vera lehnt alle Angebote ab und man kann sie zu nichts zwingen.

Die Psychiatrie hilft nicht, lässt die Einrichtung alleine mit diesem „pädagogischen“ Problem. Und wenn Vera nicht zu Terminen auf die Psychiatrie kommt, bekommt sie auch keinen stationären Platz.

Auf den Betreuer*innen lastet der Unmut von allen Seiten und es wird erwartet, dass sie etwas tun.

Und sie tun enorm viel! Sie versuchen mit Vera zu leben, sie ernst zu nehmen, sie zu versorgen. Sie versuchen Grenzen aufzuzeigen, obwohl sie selbst dabei gefährdet sind. Jeder Dienst mit Vera bedeutet selbst in Alarmbereitschaft zu sein, denn es kann immer etwas passieren.

Solche Jugendliche sind mehrfachtraumatisiert und im „Kampfmodus“.

Sie sind Symptomträger dessen, was ihnen angetan wurde.

Man braucht ein spezialisiertes, multiprofessionelles Team für solche Jugendliche, dass individualpädagogisch hochgradig deeskalierend und flexibel arbeiten kann. Ein Turnusdienstplan mit täglichen Betreuer*innenwechsel  bietet wenig Möglichkeiten.

Wenn wir keine Grenzen setzen können, braucht es zumindest die Grenzen der Umgebung und einen Systembreak abseits der Peergroup und bereits belasteter Systeme.

Eine Möglichkeit wäre zb. eine Auszeitmaßnahme abseits der Großstadt mehrere Monate in der Milieuferne mit Jugendlichen wie Vera zu leben.

Wenn diese Jugendlichen nicht fähig sind Hilfe anzunehmen, müsste Hilfe zu ihnen kommen.

Dort wo einzelne Systeme hilflos sind benötigt es multiperspektivische Zusammenarbeit. Es werden Expert*innen benötigt, die gemeinsam auf Augenhöhe bei solch schwierigen Fällen systemvernetzend arbeiten. Es werden Menschen gebraucht, die „im Feld“ agieren und dort ihre Expertise zeigen.

Dies wäre eine Chance aber dies ist letztendlich ein finanzielles Thema.

Mag. Kozak Tanja

1.9.2022