Einzelfallhilfe im Dilemma zwischen arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen und traumapädagogischen Erkenntnissen
In Österreich – insbesondere in Städten wie Wien – sehen wir uns derzeit mit einer massiven Herausforderung konfrontiert: strafunmündige, hochdeliquente Minderjährige, die kaum herkömmliche Angebote der Kinder- und Jugendhilfe annehmen oder diese an ihre Grenzen bringen. Polizei, Justiz und Sozialsysteme sind hilflos.
In Österreich sind Kinder unter 14 Jahren strafunmündig – selbst dann, wenn sie schwerwiegende, wiederholte Straftaten begehen. Für diese Kinder bleibt ausschließlich das System der Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Doch ausgerechnet dort stoßen wir bei besonders belasteten Minderjährigen regelmäßig an fachliche, rechtliche und strukturelle Systembegrenzungen.
Fallbeispiel
Ein Junge – aus einer Familie mit Suchtproblematik. Die Mutter steht im Verdacht der Prostitution. Beide Eltern sind emotional von ihren fünf Kindern distanziert und das Familienklima ist von Gewalt und Drogenmissbrauch geprägt. Alle Kinder werden fremduntergebracht.
Der Junge wird bereits als Kind an Drogen-Hotspots mitgenommen und beginnt mit neun Jahren zu stehlen – im Auftrag der Eltern. Er wächst in einer verwahrlosten, vermüllten Wohnung auf und fällt früh aus dem Schulsystem.
Mit elf Jahren kommt er in die Obhut der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Wohngemeinschaft soll Struktur bringen. Halt. Betreuung. Hoffnung.
Aber das System scheitert – nicht, weil es nicht will, sondern weil es nicht kann.
Er hält sich dort an keine Regeln, ist abgängig, stiftet andere Kinder an abzuhauen und begeht gemeinsam mit ihnen Straftaten. Er gefährdet die Einrichtung und die dort untergebrachten Kinder. Es kommt zum Einrichtungswechsel und weitereb Eskalationen. Dann zurück ins Krisenzentrum wo er meist als Abgängig gemeldet ist und kommt und geht wie er möchte.
In einem Jahr werden ihm ca. 800 Straftaten zu Last gelegt. Vorrangig Auto Diebstähle die er zu Schrott fährt, Einbrüche, Überfälle auf Taxifahrer und massive Zerstörungen von zb Parkgaragen oder kleinen Läden. Er und seine Peergroup halten die Polizei auf Trab. Alle Systeme sind hilflos – denn er ist strafunmündig!
Systemreaktion
Erst als keine Kinder- und Jugendhilfe Einrichtung ihn übernehmen will, weil er in herkömmlichen Systemen keine Regeln einhält und gefährdend agiert, die Medien fast täglich über seine Peer-Group berichten und der politische Druck steigt, wird eine individualpädagogische Einzelfallmaßnahme bewilligt und finanziert.
Nachdem es in Österreich keine Möglichkeit der „Weisung zu einer Auslandsmaßnahme“ gibt ist der Minderjährige nicht bereit seine Peer zu verlassen und mit den Betreuer:innen vorübergehend im Ausland zu leben. Denn wir sind in der Freiwilligkeit gefangen die auch auf Kosten des Kinderschutzes geht. Wir schauen dabei zu wie Kinder in unseren Einrichtungen kommen und gehen, ohne ihnen Grenzen setzen zu können.
Einzelbetreuung wird dann als Notanker finanziert und ist auch aktuell State oft he Art als Betreuungsform mit strafunmündigen herausfordernden Minderjährigen. Doch auch hier können wir in Österreich fachlich gesehen nicht arbeiten wie es aus Entwicklungspsychologischen und auf Desistance hinarbeitenden Perspektiven wirksam wäre.
Das arbeitsrechtliche Paradox
Rechtlich muss ein 12-jähriges Kind rund um die Uhr betreut werden. Arbeitsrechtlich dürfen Mitarbeiter*innen jedoch nicht mehr als 12 Stunden am Stück arbeiten, keine zwei Nachtdienste hintereinander leisten und brauchen gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten.
Was bedeutet das in der Praxis? Eine 24/7-Betreuung erfordert ein Team von mindestens 5 bis 6 Fachkräften, die sich in Schichten abwechseln – eine Lösung, die sowohl teuer als auch fachlich kontraindiziert ist.
Bindung lässt sich nicht schichtweise organisieren
Wir wissen aus der Bindungsforschung und der Traumapädagogik, dass genau diese rotierenden Betreuungssysteme mit täglich wechselnden Bezugspersonen, es den betroffenen Kindern verunmöglichen, Vertrauen aufzubauen.
Kinder mit tiefgreifenden Störungen im Beziehungsverhalten benötigen maximal zwei stabile und konstante Bezugspersonen, die langfristig zur Verfügung stehen, konfrontationstauglich, lebensweltorientiert und emotional belastbar sind. Nur so können diese Kinder eine tragfähige Beziehungserfahrung machen, erstmals in eine förderliche Bindung gehen, Regeln als etwas anderes als Kontrolle erleben und überhaupt beginnen, sich von ihrer dysfunktionalen Überlebenslogik zu lösen.
Systemische Begrenzung
Diese Form der intensiven individualpädagogischen Einzelbetreuung ist strukturell in Österreich als Hilfen zur Erziehung nicht vorgesehen. Durch das Arbeitsrecht müssen wir mit Turnusdiensten arbeiten, benötigen viele Mitarbeiter:innen und dadurch wird es organisatorisch und finanziell sehr aufwändig. Zusätzlich werden solche Einzelbetreuungen nur als zeitlich begrenzte Sondermaßnahmen genehmigt – in der Regel auf sechs Monate. Diese Befristung sabotiert die Wirkung. Denn weder das Kind noch die Betreuer wissen, ob oder wie lange die Maßnahme verlängert wird. Beziehungen bleiben unter Vorbehalt. Strukturen sind fragil. Sicherheit ist nicht garantiert. Weder das Kind noch die Fachkräfte wissen, wie lange sie in dieser intensiven Beziehung arbeiten dürfen und damit wird erneut professionelles Bindungsgeleitetes Arbeiten unmöglich gemacht.
Erfahrungen aus der Praxis
Trotz aller Widrigkeiten gelingt es uns wiederholt mit diesen Minderjährigen in Kontakt zu gehen. Denn (fast) jedes Kind ist betreubar und sucht nach stabilen Beziehungen. Wir gehen in ihren Lebensraum, scheuen uns nicht an ihre Plätze zu kommen und aus ersten Kontakten entsteht Interesse. Wir schaffen es das so ein Junge langsam sein Misstrauen gegenüber Erwachsenen abbaut, schaffen es, dass er unsere Wohnung als Rückzugsort anerkennt und sogar Grundregeln des zusammen Lebens einhalten lernen. Wir wissen auch, dass es funktioniert mit stabilen Bezugspersonen zu arbeiten die flexibel aufsuchend und einer individualpädagogischen Haltung begleiten.
Doch nach 6-12 Monaten kann es sein, dass es als nicht zielführende Maßnahme gilt, da dieser Junge noch immer Delinquent ist und noch immer nicht die Schule besucht und noch immer nicht bereit war mit den Betreuer:innen ins Ausland zu gehen. Und spätestens mit 14 Jahren ist er strafmündig.
Was sagt das über unser System?
Wir fordern von hochtraumatisierten Kindern die Jahrelang weitergereicht wurden, viel auf der Straße sind und risikoreich agieren, sich in kürzester Zeit auf eine Betreuungsbeziehung einzulassen und sich zu stabilisieren – und bieten ihnen ein System, das selbst instabil ist. Wir benennen ihre Verweigerung – und übersehen unsere strukturelle Unverfügbarkeit. Es gibt keine Konsequenzen, dadurch lernen sie wiederholt „Beliebigkeit“. Wir sprechen von Ressourcenknappheit – und verschwenden gleichzeitig die Chance auf echte Veränderung durch kurzfristige, ineffiziente Lösungen die für diese Kinder und auch ihre Betreuer:innen höchst frustrierend und nicht förderlich sind. So wird nachhaltige Veränderung verhindert, bevor sie überhaupt greifen kann.
Wir sind in einem Dilemma, zu wissen wie wir förderlich arbeiten könnten und wollen, es jedoch nicht können und so Teil eines Systems werden wo wir gegen fachliches Know How arbeiten müssen.
„Wir dürfen diese strafunmündigen delinquenten Kinder nicht zum Prüfstein unserer pädagogischen Haltung und Zuwendung machen. Sie haben sich das so nicht ausgesucht. Sie zeigen uns Systemgrenzen und wir sind es an denen es liegt, diese gelingend zu verändern.“
Mag.rer.nat Kozak Tanja
Klinische & Gesundheitspsychologin, Traumatherapie, Individualpädagogik
Altlengbach, Mai 2025
Quellenverzeichnis
- Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development.
- Ainsworth, M. D. S. et al. (1978). Patterns of Attachment.
- Bock, H.-H. (2014). Traumapädagogik: Grundlagen und Praxis.
- Lang, M. & Witte, T. (2010). Handbuch Traumapädagogik.
- Perry, B. D. & Szalavitz, M. (2006). The Boy Who Was Raised as a Dog.
- Thiersch, H. (2002). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit.
- Kölch, M., Fegert, J. M. (2010). Beziehungskontinuität in stationären Settings. In: Kindeswohl und stationäre Jugendhilfe.
- Arbeitszeitgesetz (AZG) Österreich: § 5–14. www.oesterreich.gv.at
- Bundeskinderschutzgesetz, KJHG Österreich: §§ 30ff.
- Berichte der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien (kija).
- Medienberichte: Der Standard, ORF, Heute, Kronenzeitung (2022–2024).
- Deutschland: IGfH – Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Fachtexte zu § 35 SGB VIII.