Diese Kindheit haben sie sich nicht ausgesucht
Der Begriff Systemsprenger bezieht sich im Allgemeinen auf vorrangig Minderjährige die durch ihre herausfordernden Verhaltensmuster als „nicht integrierbar“ gelten und somit die Grenzen der herkömmlichen Unterstützungssysteme, meist Sozialpädagogische Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe „sprengen“.
Ein anderer Blickwinkel ist es die strukturelle Begrenztheit der Hilfesysteme in den Mittelpunkt zu rücken, die zumindest teilweise gesprengt werden sollten um auch diese Kinder und Jugendlichen betreuen zu können. Anstatt diese Kinder und Jugendlichen als Symptomträger ihrer Geschichte in einen Problemorientierten Fokus zu rücken, ist es längst an der Zeit Individualpädagogische Betreuungsformen als „State of the Art“ zu etablieren.
In der Kindheit jener Kids finden sich meistens belastende Faktoren, die zu ihren späteren Verhaltensweisen beitragen. Familiäre Belastungen mit Traumatisierungen und ein problematisches soziokulturelles Umfeld führen zu Entwicklungsverzögerungen, Bindungsstörungen und psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten.
(Copyright: T.Kozak)
Herausforderungen von Gruppensettings für Kinder mit Bindungs- und Verhaltensauffälligkeiten
Kinder mit bereits manifestierten problematischen Verhaltensstörungen, emotionalen Störungen und Bindungsproblematik profitieren kaum von Betreuungskonzepten, in denen täglich wechselnde Teams von 6-12 Fachkräften im Schichtdienst arbeiten. Der ständige Wechsel der Bezugspersonen macht es für bindungsgestörte Kinder nahezu unmöglich, ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu entwickeln. In diesem Gruppensetting der Einrichtung ist die Privatsphäre stark eingeschränkt, die Aufmerksamkeit des Personals verteilt sich auf viele Kinder und die Vielzahl an Regeln sowie die wechselnden Rahmenbedingungen führen zu einer Reizüberflutung und Stress durch Erwartungen. Für emotional instabile Kinder bedeutet das eine zusätzliche Belastung zu ihren bereits bestehenden inneren Konflikten. Die ständige soziale Interaktion und komplexen Gruppendynamiken erzeugen Stress, die Regelungen „verführen“ dazu sich zu wiedersetzen. Gefühle von Unsicherheit werden so kompensiert – oft mit der Folge von Impulskontrollstörungen oder aggressivem Verhalten gegenüber anderen.
Desorganisierte Bindung ist geprägt von tiefem innerem Konflikt, Angst und Misstrauen gegenüber Bezugspersonen. In Gruppensettings versuchen täglich andere Fachkräfte, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen, dies verstärkt die Symptomatik, denn es fehlt verlässliche, konstante Präsenz einiger weniger Personen mit denen diese Kids sich trauen Bindung zu entwickeln. Dadurch bleibt es den Kindern verwehrt, stabile Bindungserfahrungen zu machen oder Erwachsene als vertrauenswürdig zu erleben. Ihre Bindungsunsicherheit wird so weiter gefestigt.
Typische Verhaltensweisen im Gruppenkontext „die den Sozialpädagogischen Alltag sprengen“:
- Bindungsvermeidung: Ablehnung von Nähe, Misstrauen gegenüber Pädagog:innen, oft kühl oder kontrollierend.
- Chaotisches Verhalten: Wutausbrüche, Rückzug, Wechsel zwischen Anklammerung und Ablehnung.
- Beziehungsprovokation: Testet Grenzen, provoziert gezielt, um Ablehnung zu „beweisen“.
- Rollenumkehr: Übernimmt Erwachsenenrollen, „lässt sich nichts sagen“, fordert übermäßige Versorgung und zeigt starke Bedürfnisorientierung.
- Loyalitätskonflikte: Zwischen Zugehörigkeit zur Gruppe und individuellem Selbstschutz. Ablehnung der Einrichtung.
- Dissozialität: Extreme Verhaltensmuster mit Grenzverletzungen, Abgängikeien, Ablehnug von Regelungen und Straftaten
Ab dem 15. Lebensjahr gibt es die Möglichkeit im Rahmen der Hilfen zur Erziehung von Betreutem Wohnen, mit intensiver Bezugsbetreuung die aufsuchend agiert. Mit diesem Setting können einige Jugendliche gut betreut werden. Bei Straftaten und/0der Übergriffen kommt die Justiz zu tragen.
Vor allem jedoch die Kids zwischen 12-14 die noch strafunmündig sind und solch herausfordenden Verhaltensweisen zeigen benötigen flexible kreative Maßnahmen. Es zeigt sich aus anderen Ländern und bisherigen Erfahrungen, dass Individualpädagogische Einzelfallmassnahmen gut geeignet sind um diese entgrenzten Kids zu begleiten.
(Copyright: T.Kozak)
Systemversagen trotz Handlungswissen – Warum Einzelfallhilfe für schwer belastete Kinder notwendig ist
Das derzeitige Hilfesystem misst Erfolg häufig an kurzfristiger Anpassung – nicht an nachhaltiger emotionaler Stabilisierung. Interventionen kommen meist zu spät – und wenn die Situation bereits eskaliert, wird plötzlich investiert und in kurzer Zeit unmögliches Verlangt.
Individualpädagogik bezeichnet eine Betreuungsform die auf die Bedürfnisse und Lebenslage eines einzelnen jungen Menschen zugeschnitten ist. Individualpädagogik ist kein „Abenteuerprojekt“ oder schnelle Krisenauszeit, sondern intensive Beziehungsarbeit mit jungen Menschen in besonders schwierigen Lebenslagen, mit meistens gefährdenden Verhaltensweisen. Mit dem Ziel eines kooperativen Betreuungskontextes in Richtung Desistance. Es benötigt eine Kooperation der Unterstützersysteme auf Augenhöhe statt wiederholte Vorwürfe, Erwartungshaltungen und dem Druck der letztendlich auf den Betreuer:innen lastet die für eine „Positive Veränderung“ zuständig sind.
Individualpädagogik wirkt – wenn Beziehung gelingt. Es ist keine Patentlösung, aber eine große Chance für „unauffangbare, nicht betreubare“ Jugendliche und strafunmündige delinquente Kids.
Aktuell können in Österreich solche Massnahmen wenig umgesetzt werden, da wir an rechtlichen Problemen scheitern. In einigen Bundesländern werden solche Massnahmen nur als Sondersetting mit keiner stabilen Finanzierung durchgeführt, manchmal nur bis die Kids 14 sind und damit strafmündig. Arbeitsrechtlich haben wir keine Möglichkeiten mit diesen Kids mehrere Tage am Stück oder Wochenlang „zu leben“. Und wir haben keine Möglichkeit mit solchen Kids zu arbeiten wenn sie sich der Betreuung entziehen. Denn es gibt keine Konsequenz, die Türen bleiben offen und es ist schwer einem 12jährigen „zuzusehen“ wenn er in der Nacht Einbrüche und Zerstörungen begeht und es keine Möglichkeit gibt mit ihm aus der Stadt zu gehen wenn er nicht selbst zustimmt.
Zwischen „herkömmlichen Sozialpädagogischen Settings“ und aktuell geforderten geschlossenen Unterbringungen, sollte es zumindest „eine Weisung“ und damit Möglichkeit für Individualpädagogische Betreuungen und Auslandsauszeiten mit den Betreuer:innen geben um durch einen Systembreak mit stabilem Beziehungsangebot einen Raum zu schaffen in dem altersadäquate Veränderung entstehen kann. Es scheint jedoch aktuell einfacher eine geschlossene Unterbringung zu schaffen anstatt Arbeitsrechtliche und juridische Möglichkeiten auszuloten.
Dennoch sehe ich in den aktuellen Debatten auch viele fachlich gute Ansätze, motivierte Menschen die „Hinsehen“ und vor allem Verbände, Netzwerke, Einzelpersonen… die abseits des verständlichen Wunsches nach „Konsequenzen“ und „Einhalt für Intensivtäter:innen“ auch an Prävention, frühzeitigere Etablierung von Massnahmen und auch kreative Betreuungsformen denken.
(Copyright: www.noah.at)